Sehnsucht nach Segen

Nord-Armenien. Die langen Strahlen der frühmorgendlichen Junisonne kommen eben über den Berg. David, unsere Tochter und ich stehen wir früh auf und schlüpfen leise aus der Wohnung, um zu dritt auf den „Hausberg“ von Vanadzor zu steigen. Dort oben steht eine kleine, von der Witterung geschwärzte Kapelle. Wunderschön grüne Kaukasus-Berge umgeben uns, der Weg ist von Frühlingsblumen gesäumt. Wir genießen es Prisci dabei zu haben. Wir sprechen über das Schicksal dieser Berge, deuten auf die Häuserruinen, erklären, was wir bei unseren anderen sechs Besuchen über die Menschen hier gelernt haben:

1988 erschüttert ein Erdbeben der Stärke 7 auf der Richterskala Nordarmenien und bringt viele Häuser zum Einsturz. Montelang leben die obdachlos gewordenen Familien in Notunterkünften. Die Sowjetunion bittet um internationale Hilfe, die ganze Region ist betroffen. Zwei Jahre später erschüttert ein Beben von unweit größerem Ausmaß das politische und wirtschaftliche Gefüge – die Sowjetunion bricht auseinander. Seither ist wirtschaftliche Situation sehr schwierig, riesige Industriebetriebe, die rund um die Uhr Tausende beschäftigt hielten, schauen heute stumm und hohlwangig ins Tal. Die Armut und Perspektivlosigkeit erschüttert uns bei jedem Besuch hier.

Bis heute, dreißig Jahre später, wohnen am Stadtrand von Vanadzor immer noch Familien in Hütten, die ihnen einst als Notunterkunft zur Verfügung gestellt wurden.

Bei meinem ersten Besuch in Armenien, 2007, liege ich in den Nächten wach. Die kleinen Kinder, die dort zwischen den Hütten spielen, gehen mir nicht aus dem Kopf.  Schweine und Hühner grasen dort frei und rostige, hohläugige, auf dem Kopf liegende Autoleichen sind ihre Spielgeräte. Keine Mutter wünscht sich, dass ihre Kinder hier aufwachsen.

Ich frage mich, kann ich für diese Menschen etwas sein, etwas Gutes tun? Oder muss ich mich resigniert abwenden, heimfahren nach Deutschland und …ja was eigentlich?

Wenn wir glauben, auch wenn alles dagegen spricht, und lieben, obwohl alles dagegen spricht, dann kann Jesus sich der Welt offenbaren und sie verändern. 

Frederick Buechner

Seit damals sind 12 Jahre vergangen. Nach dem Besuch bei der Kapelle und dem anschließenden Frühstück gehen wir mit Karina, meiner armenischen Freundin und Übersetzerin zu den Hütten und besuchen einige Frauen dort. Viele kenne ich seit  Jahren. Da ist Marina. Ihre dunklen Augen blicken uns prüfend an als wir kommen, dann strahlt sie und drückt uns herzlich. Schnell holt sie ein paar grüne Früchte vom Baum und überreichte sie uns – die Armenier und Iraner lieben grüne Äpfel und Pflaumen obwohl sie unreif und sauer schmecken – zumindest für uns 😉

Bis vor wenigen Jahren lebte Marinas Mann noch, er hatte ein Nierenleiden und musste jeden zweiten Tag zur Dialyse. Ich war entsetzt, wie konnte ein so schwerkranker Mann mit seiner Familie in einer Hütte ohne Badezimmer leben?!

Inzwischen sind die Kinder erwachsen und Marinas Mann lebt nicht mehr – Marina wohnt jetzt ganz alleine hier.

Als wir uns nach einem Gebet verabschieden, geht sie mit nach draußen und zeigt zum Himmel. „Ich habe Jesus gesehen – er kommt bald wieder.“ Ihr Hund hat aufgehört zu bellen und legt sich jetzt brav vor seine Hütte.

Wie? – sie hat Jesus gesehen? „Er kam in einem hellen Licht, brachte Friede …

Ich muss unwillkürlich an eine andere Begegnung im März denken, eine vielbeschäftigte Projektmanagerin hat mir im Nordirak das selbe gesagt.

Jesus, ich spüre dass er da ist und mit uns von Hütte zu Hütte geht.

Da ist Mona. Nachdem ihre Tochter wieder geheiratet hat, ließ sie ihre zwei Kinder bei der Mutter – die drei leben in einer blau angestrichenen Hütte, die super sauber aufgeräumt ist. Sie klagt uns ihre Not, aber sie berichtet auch, dass der Glaube an Gott, ihr Hoffnung gibt, durchzuhalten.

Egal wie die Umstände sind, Jesus ist immer da – die Frage ist nur, ob wir ihn sehen können inmitten der sauren Früchte, der bellenden Hunde und der baufälligen rostigen Hütten unseres Lebens.

Wir winken und schlendern weiter. Hier setzen wir uns zu einer Frau vor die Hütte erzählen, beten und umarmen. Dort werden wir in eine Hütte gebeten und hören nehmen in uns auf, wo der Schuh drückt.

Oma Rosas Hütte ist von hohem Gras umwuchert, tief hängen Äste, ihre Hühner picken nach Würmern auf den Trampelpfad, der zur offen stehenden Tür führt. Alte Töpfen Krimskrams erzählen Oma Rosas Lebensgeschichte. Auf ihrem Wohnzimmer-Esszimmer-Küchentisch liegt zwischen Kaffeetasse und Medikamentenschachtel Rosas Bibel. Ich spreche sie darauf an, ich frage mich, hat dieses alte Buch ihr etwas zu sagen? „Oh“, lacht sie, „ich vergesse die Bibelverse und Geschichten gleich wieder. Darum lese ich jeden Tag darin.“

Sie drückt die Bibel an sich: „Dieses Buch ist mein Leben.

 Ohne seine Worte kann ich nicht sein.“

Ihr Mann, der ruhig auf der schmalen Pritsche liegt und fast blind ist, hört uns aufmerksam zu.

Rosas Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, ihr Strahlen kann ich nicht mehr vergessen, ihr herzzerreißendes Gebet rührt uns alle zu Tränen.

„Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ Sagt Jesus. Hier in dieser vermüllten Hütte, aus dem Mund einer alten, hinkenden Frau, die hingebungsvoll ihren Mann pflegt, ihre silbernen Haare glänzen wie ein Sternenkranz.

Viel zu schnell verfliegt die Zeit mit unseren armenischen Freunden.

Besuche, Gespräche, Essen, Lachen und Tränen füllen die Zeit. Das ist es was ich heute geben kann. Hier sein, mich geben und diese Stunden miteinander teilen.

Unser letzter Tag ist da, heute machen wir mit rund 25 Frauen aus dem Elendsviertel einen  Ausflug ins Grüne. Wir fahren mit ein paar Männern und Frauen vor, die uns helfen zu grillen. Auf Spieße, so lang wie Schwerter, wird das Fleisch aufgezogen, Gemüse an einem Brunnen gewaschen und schön serviert. Ein Bus, orange mit Gasflaschen auf dem Dach, kommt über den Hügel von der Stadt herauf und heraus wuseln Frauen, ein paar Kinder, Taschen, Spielsachen, Picknick-Decken – die strahlenden Gesichter sind einfach toll. Der Feuerqualm lässt uns husten, wir können dem Treiben eigentlich nur zusehen. Wir können nur lächeln, fuchteln und drücken 😉

Wir haben große Pläne für diesen Tag, 

wollen segnen – 

sie sollen heute Frauen mit Würde und Freude sein.

Zwischendrin haben wir das Gefühl, es ist alles chaotisch und wie soll das klappen?? Aber irgendwann ist das Fleisch durch und Brot, Getränke und Servietten ausgeteilt und der Schmaus geht los.

Ich sitze neben einer jungen Frau. Sie hat sich sorgfältig zurecht gemacht. Wir reichen uns die Gemüseplatten, sie zerreist das Brot, das so dünn wie Papier ist und auch so heißt. Dabei lächeln wir uns an, schnell schaut sie zur Seite. Ich vergesse, dass ich mir eine arme Frau aus einem Elendsviertel so nie vorgestellt habe. Es ist schön mit ihnen, ihre Stimmen brummen wie Bienen durcheinander.

„Wunderbar bin ich gemacht, das erkennt meine Seele wohl.“ 

Wir lesen zusammen Psalm 139 und sprechen über Jesus.

David und Priscilla setzen Farbbäder in rot, blau und pink über den heißen Kohlen an. Helle Sonne scheint durch die filigranen Blätter, der Wind streichelt uns, wir essen, singen, quatschen, lächeln uns an und tauchen Taschen in rosa Farbbäder. Alle sind begeistert, als sie ihre Taschen, durchgefärbt mit hellen Kreisen und Mustern in der Sonne zum Trocknen aufhängen.

Solche Tage brauchen wir alle, 

das Lächeln, die Freude, der Wind, die im Nachmittagslicht flirrenden Blätter, 

sie helfen unserer Seelenvergesslichkeit auf die Sprünge – 

Gottes Liebe benetzt und durchdringt uns – sie ist immer da.

Zum Abschied gibt es Geschenke – kleine Grüße von den Frauen aus der CG-Ellmendingen. Ein zartes Band, gewoben aus Liebe und Gebet, durfte ich knüpfen seit damals als ich wegen dem ganzen Elend nicht schlafen konnte. Mit jeder einzelnen Frau drücken und küssen wir uns noch mal. Zwischen den sich im Wind wiegenden Blüten nehmen wir in der Abendsonne Abschied. Sie klettern in den Bus und fahren der Stadt zu, wir winken noch lange.

Jetzt müssen wir noch mal zur Kapelle hoch. Die Strahlen der untergehenden Sonne treffen auf das Kreuz dort oben, zeigen uns den Ort, an dem die Liebe ihren Anfang genommen hat. An dem Jesus sich brechen lies, um mein Dunkel und Verlassensein zu durchbrechen. 

Die Kerze am Altar flackert, das Licht scheint mitten durch das Kreuz auf mein Gesicht.

Christiane Ratz

Neueste Beiträge

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.