Eine Metalltür verrammelt die Türöffnung fest. Zement hält eine eiserne Kette und damit ein Schloss in der jahrhundertealten Mauer fest, die an vielen Stellen schon bröckelt. Hier ist nichts zu machen. Ohne Schlüssel werde ich mich nie davon überzeugen können, ob der Tod vor dieser Synagoge hoch oben über der Nineveh-Ebene halt gemacht hat und das Licht noch brennt.
Bei der Fahrt hierher haben wir unzählige Checkpoints passiert, bewacht von Milizen, mit ihren Kalaschnikows im Anschlag. Überall wehen schwarze und rot-grüne Fahnen. Sie zeugen vom Sieg der schiitischen Eroberer die nach dem IS über Dörfer und Städte gekommen sind, deren Mittelpunkt bis vor Kurzem uralte Kirchen waren. Erbaut von Menschen, die an die Vergebung und Güte Gottes geglaubt haben.
Was hat sie vertrieben? Warum mussten sie fortgehen?
Werden die Trümmer der Resignation das letzte Wort haben?
Nur wenige Kilometer von der Synagoge auf dem Berg passierten wir eine Geisterstadt. Ich sah einen halbwüchsigen Jungen auf den Trümmern eines Hauses sitzen,. Er warf Steinchen hinab auf den Traktor seines Vaters. Der musste ihn vor vier Jahren einfach in der Einfahrt stehen lassen, und seine Familie retten. Hals über Kopf waren sie zusammen mit Verwandten und Nachbarn aus dem Dorf vor den Islamisten geflohen. Das Stroh für die Kühe war inzwischen auf dem Anhänger verrottet. Drei Jahre lang hatte das Fahrzeug dort in Wind und Wetter gestanden und auf seine Rückkehr des Bauern gewartet, ohne sich zu rühren.
So wie vor dem Haus des Jungen hatte es überall am Stadtrand ausgesehen, der am Autofenster vorbeigezogen war. Traktoren, LKWs und andere landwirtschaftliche Geräte standen einfach dort am Straßenrand. Verlassen und vergessen.
Die Leblosigkeit dieser Stadt schneidet mir in den Bauch. Es ist heute nur ein flüchtiges Gefühl, denn wir hielten nicht an und sprachen nicht mit dem Jungen. Wir riefen ihn nicht vom Dach herunter und trösteten ihn.
Wir sind weitergefahren nach Alqosh.
Das Dorf klebt seit hunderten von Jahren unterhalb eines Gebirgszuges, der die Niniveh-Ebene säumt. Schon vor 3000 Jahren haben in den Felshöhlen von Alqosh, im Norden des Irak, Menschen gewohnt. Assyrische Wandbilder in den Höhlen zeugen davon. Hier oben ist es still, am wolkenlosen Himmel kreisen Bussarde über Alqosh, das einmal Elkot hieß. Dem Ort, wo 700 Jahre vor Christus ein Mann wohnte, der Gott ernst nahm und durch den Gott sprach. Für Juden und Christen war und ist er, der Nahum, ein Tröster.
Nachdem wir das Tor zu Nahums Grab verschlossen finden, wenden wir uns der
schmalen, steil abfallenden Gasse zu, die ins scheinbar menschenleere Dorf hinein führt.
Hüpfend und springend kommen plötzlich zwei Kinder mit ihrem Vater den Weg herauf. Ich bleibe ein wenig zurück, und grüße die drei wortlos lächelnd. Der Mann sagt etwas, das ich nicht verstehe, aber meine Begleiter zum Stehenbleiben bewegt. Ich sehe dem Gespräch im Schatten der schiefen Mauer zu und versuche meinen Teil zur Kommunikation beizutragen: Wortlos wühle ich in meiner Tasche nach Gummibärchen. Meine Freundin hatte sie mir vor der Abreise zugesteckt und ich halte dem Mädchen im rosafarbenen Micki-Maus-Pullover und ihrem kleinen Bruder je ein Päckchen hin. Sie gucken schräg hoch, als wollten sie prüfen, ob mir zu trauen ist und ruck zuck sind die Süßigkeiten in ihren Taschen und kurz darauf auch in ihren Mündern verschwunden.
Ganz nebenbei tauschen die Männer das Woher und Wohin aus. Ist es Zufall oder Fügung, jedenfalls hat der Mann den Schlüssel für das jüdische Gotteshaus dabei, das Juden über dem Grab von Nahum, dem Alqoshiter, der schon in der hebräischen Bibel erwähnt wird, errichtet haben.
Der Mann öffnet uns tatsächlich das Metalltor und tut die Kette beiseite. Seine Kinder laufen voraus, stoßen die Tür zur Synagoge auf und klettern die Steinstufen hinab. In einer Mauernische zünden sie Kerzen auf der kalten Asche an. Der warme Lichtschein zieht mich wie magisch an. Das Licht breitet seine Arme aus und heißt mich willkommen. Es hat immer hier gebrannt. Niemand konnte den glimmenden Docht auslöschen. Niemand den Frieden nehmen, der mich und die Männer die mich herbrachten, umarmt.
Ich mache Fotos, die das Wunder festhalten. Spielende Kinder im flackernden Lichtkreis der Hoffnung, mitten im Kriegszerrütteten Irak.
Nahum hatte den Menschen damals Hoffnung gemacht. Seine Worte sind bis heute erhalten: „Gott ist gut. Er ist ein Schutzort in harten Zeiten. Er hört uns, nimmt uns wahr und heißt uns willkommen. Gott hilft uns, egal wie verzweifelt wir uns Sorgen machen.“ (Nahum 1, 7)
In der Mauer sind Steintafeln mit hebräischen Inschriften angebracht(1. Könige 8,13). Offensichtlich hatten Nahums Nachfahren dieses Haus Gottes über seinem Grab errichtet, in der Sehnsucht nach einem Ort, an dem Gott spürbar, begreif und erlebbar war. Die Juden hatten hier Gott angebetet, bis sie einer nach dem anderen aus dem Irak vertrieben waren. Seither sind wohl keine jüdischen bzw. israelischen Pilger mehr hier gewesen.
Obwohl äußerlich alles am Zerfallen ist und nur Metallstützen eines Restaurators das Gebäude aufrecht erhalten, ist Zeit plötzlich bedeutungslos.
Es ist als ob Nahum, der Prophet aus dem Nord-Irak im Schatten der Bäume vor der Synagoge sitzt und mit mir in die dunstige Weite der Niniveh- Ebene hinabblickt. Der Friede in der Wintersonne scheint plötzlich surreal. Ich höre Nahums Worte, mit denen er so furchtbar treffend beschreibt, was dort unten passierte:
„Sie wurden verheert und geplündert, dass aller Herzen verzagten und die Knie schlotterten, aller Lenden zitterten und aller Angesicht bleich wurden. Reiter rückten herauf mit glänzenden Schwertern und blitzenden Spießen. Da liegen viele Erschlagene, eine Unzahl von Leichen, ihrer ist kein Ende. (Nahum 2,11 +3,2-3)
Ich will den Königreichen deine Schande zeigen,.. dich schänden und ein Schauspiel aus dir machen, dass alle die dich sehen, vor dir fliehen und sagen sollen: Ninive ist verwüstet, wer will Mitleid mit ihr haben? Wo soll ich dir Tröster suchen?“
(Nahum 3, 5 und 7 – Luther)
Ich denke an die Geisterstadt, an der wir vorhin vorbei fuhren. Sehe die schwarzen Fahnen im Wind. Und höre die Stimmen, der vielen Geflüchteten, die ich in den letzten fünf Jahren in Deutschland getroffen und interviewt habe. Das Grauen hat mich jedes Mal gepackt, über dem Abgrund, von dem sie mir erzählten. Ich wollte nicht hierherkommen, war froh, sehr weit weg von diesem Albtraum zu sein, der sich Islamischer Staat und Krieg nennt.
Doch jetzt bin ich hier, bin einer Einladung gefolgt, die mit jedem Gespräch das ich mit Christen aus dem Nahen Osten führte, lauter geworden ist.
Bedenklich haben meine Freund die Köpfe gewogen und mich mit großen Augen angeblickt, als mein Entschluss feststand in den Irak zu reisen. Vorher hatte ich diese Gedanken tunlichst für mich behalten, denn ich wusste genau, dass diese Fragen kommen würden: „Ist das nicht gefährlich?“ „Was willst du dort?“ „Bist du dir sicher?“
Viele Christen haben fliehen müssen und sind traumatisiert. Der Führer des IS hatte sie vor die Wahl gestellt, entweder zum Islam zu konvertieren oder zu sterben. Offiziell ist der IS nun besiegt und seine Herrschaft zerschlagen. Einige wenige Christen kehren vorsichtig wieder in ihre Häuser zurück und versuchen sie wieder bewohnbar zu machen – sie wollen ihre Heimat nicht lassen.
Aber ihre Wunden sind tief – wie kann ich oder irgendjemand sonst sie trösten?
Als Geschichtenerzählerin weiß ich, welch Trost im Aussprechen der eigenen Erlebnisse liegt und im kommentarlosen Zuhören. Doch ich fürchte mich davor, ich weiß nicht, ob ich das ertragen kann. Allerdings – die Menschen im Irak wurden auch nicht gefragt, ob sie das Leid ertragen können, das ihnen zugemutet wird. Niemand wird das.
Ich frage mich was in Youssif vorgeht, der siebenundzwanzigjährige christliche Soldat der an der Seite der kurdischen Peschmerga für die Christen kämpft. Er stellt sich neben Nahums Grab für ein Foto auf. Dabei schiebt er die Ärmel hoch und ich sehe seine Tätowierung, ein Kreuz, darüber im Bogen das Wort „Jesus“.
Er ist der Einzige den wir haben, sagt er mir später beim Mittagessen.
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clindamicina en crema